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Unabhängige Kommission und Border Forensics kritisieren Staatsanwaltschaft im Fall der Tötung von Roger Nzoy Wilhelm und veröffentlichen unbeachtete Beweise

Pressemitteilung

10.11.2023

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Der 38-jährige Zürcher Roger Wilhelm wurde am 30.8.2021 am Bahnhof Morges von einem Polizisten erschossen. Wilhelm wurde sechseinhalb Minuten lang auf dem Bauch liegengelassen, ohne dass die weiteren involvierten Polizist:innen Erste Hilfe leisteten. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft Kanton Waadt am 10. Oktober 2023 angekündigt, weder Tötung noch unterlassene Hilfeleistung zur Anklage zu bringen.

Die Schweiz verfügt über keine unabhängige Institution zur Untersuchung von Vorfällen von Polizeigewalt, daher erweist sich eine unabhängige zivilgesellschaftliche Überprüfung und Untersuchung dieses Todesfalls als dringend notwendig. Eine unabhängige Kommission bestehend aus Wissenschaftler:innen der Bereiche Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft sowie die wissenschaftliche Forschungsorganisation Border Forensics prüfen den Fall nun selbst. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden heute in Lausanne in Anwesenheit von Evelyn Wilhelm und dem für den Fall beauftragten Rechtsanwalt Ludovic Tirelli präsentiert. Sie zeigen, dass der Entscheid der Staatsanwaltschaft dringend hinterfragt werden muss.

Elio Panese, Mitglied des Forschungsteams Border Forensics, rekonstruierte den Ablauf des Tötungsdelikts in Morges mittels eines Films sekundengenau. Der Film zeigt, dass Wilhelm sechseinhalb Minuten mit einer Schusswunde am Rücken gefesselt am Boden lag und ausser Atembewegungen keine weiteren Bewegungen machte. Dies beweist, dass die beteiligten Polizeibeamt:innen lebensnotwendige Rettungs- und Wiederbelebungsmassnahmen unter­liessen. Dr. med. Martin Herrmann, Teil der medizinischen Expert:innen der Kommission (Facharzt FMH für Allgemeine Chirurgie und Traumatologie), bestätigte in seiner Analyse, dass die erforderlichen Erste-Hilfe-Massnahmen nicht durchgeführt wurden, obwohl der auf dem Bauch liegende Wilhelm keine Bedrohung für sie darstellte und er noch Atembewegungen ausführte. Die zu klärende Frage vor Gericht lautet: Hätte Wilhelms Leben durch sofortige Erste-Hilfe-Massnahmen seitens der Polizei gerettet werden können?

Prof. Dr. Udo Rauchfleisch, Prof. em. für Klinische Psychologie und Mitglied der Kommission, verfasste einen Bericht basierend auf psychiatrischen Akten, Gesprächen mit Angehörigen, Aussagen von Zeug:innen sowie dem Videomaterial der Tötung von Wilhelm. Demnach wurde die waadtländische Polizei gerufen, um einem Schwarzen Mann, der Symptome einer Psychose aufzeigte, zu helfen. Laut Rauchfleischs Gutachten war Wilhelm in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt aggressiv, stand jedoch unter Stress und hätte psychologische Hilfe gebraucht. Anstatt Hilfe zu leisten, erhöhten die vier Polizist:innen den psychologischen Stress von Wilhelm. Er wurde als Bedrohung gesehen und schlussendlich erschossen. Daher drängt sich eine weitere entscheidende Frage auf, die vor Gericht geklärt werden muss: War das Verhalten der Polizist:innen adäquat und war der Einsatz von Schusswaffen notwendig und gesetzeskonform?

Der Tod von Wilhelm ist im Kontext weiterer Tötungen von Schwarzer Personen durch die Polizei in der Schweiz zu sehen. Im Fall von Mike Ben Peter, der am 28. Februar 2018 infolge eines Polizeieinsatzes verstarb, forderte der ermittelnde Staatsanwalt, welcher auch den Fall Roger Nzoy Wilhelm leitet, anlässlich des Gerichtsverfahrens überraschend einen Freispruch für die beteiligten Polizisten. Rechtsanwältin Brigitte Lembwadio Kanyama, Mitglied der Rechtsgruppe der Kommission, kritisierte den Umgang mit Todesfällen infolge von Polizeieinsätzen im Kanton Waadt schwer. In allen Fällen handelte es sich bei den Getöteten um Schwarze Personen. Rechtsanwalt Philipp Stolkin, Mitglied der Rechtsgruppe der Kommission, unterstrich, dass die Staatsanwaltschaft unabhängig von der Hautfarbe des Opfers und dem öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis einer tatverdächtigen Person in der Lage sein sollte, ihre Untersuchung durchzuführen.

Laut einem weiteren Mitglied der Kommissionsgruppe, dem Rechtswissenschaftler David Mühlemann, ist aus menschenrechtlicher Sicht die Staatsanwaltschaft verpflichtet, solche aussergewöhnlichen Todesfälle unabhängig, wirksam und umfassend zu untersuchen: «Auf dem Spiel steht nichts weniger als das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Gewaltmonopol des Staates.» Indem die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Fall einstellen will, wird die Möglichkeit einer menschenrechtskonformen Untersuchung verhindert. Daher fordert die Kommission die Staatsanwaltschaft Waadt dringend auf, die Untersuchungen zum Fall Roger Nzoy Wilhelm einzuleiten undden Fall vor Gericht zu verhandeln.

Liste der Sprecher:innen
Me Ludovic Tirelli, Rechtsanwalt
Elio Panese, Border Forensics
Me Brigitte Lembwadio, Rechtsanwältin
Lic. iur. Philip Stolkin, Rechtsanwalt
Maïna Aerni, Juristin
David Mühlemann, Jurist
Yosina Koster, Juristin
Dr. Martin Hermann, Chirurg
Prof. em. Udo Rauchfleisch, Psychologe
Evelyn Wilhelm, Klägerin und Schwester von Roger Nzoy Wilhelm

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